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Die Erfindung der "Einheit von Zen und Geboten" und der Zen-Vorläufer Seng-chao (374-414)

Ein Thema der jüngeren Vergangenheit in diesem Blog war, ob man sich an ein wörtliches Gerüst von Regeln zu halten habe, wenn man erwacht oder auf dem Pfad vorangeschritten sei. Gerade im Hinblick auf Fehlverhalten von Lehrern wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass sie sich nicht genügend an der buddhistischen Moral ausgerichtet hätten. Mir ging es zunächst einmal darum, aufzuzeigen, dass genau mit dieser Hoffnung, bei buddhistischen Lehrern oder Meistern auf moralisch weit entwickelte Personen zu treffen, zum einen Enttäuschung und Frustration schon vorprogrammiert sind und zum anderen mit derartigen Vorschusslorbeeren Macht und Manipulationsmöglichkeiten eines Lehrers unnötig erleichtert werden.
   Einen weiteren Aspekt streifte ich ebenfalls, nämlich den Irrglauben, man würde durch reines Befolgen von Geboten erwachen oder auch nur, indem man ihnen den gleichen Rang wie der Praxis der Versenkung oder Meditation (samadhi) und der Weisheit (prajna) zuweist. Fragt man Theravadins, verweisen sie in der Regel auf Textstellen im Palikanon, die sich an Mönche richteten und in denen der Buddha etwa sagte; "O Mönche, ohne die Moral gemeistert zu haben ist es nicht möglich, die Konzentration zu meistern, und ohne diese wird man nicht die Weisheit meistern." (nach AN 5:22, siehe auch DN 16). Die drei Bestandteile des Achtfachen Pfades, die mit "Rechter Rede", "Rechtes Handeln", "Rechter Lebenserwerb" bezeichnet werden, sind  nach MN 44 Ausdruck von Tugend und Moral, während andere Pfadglieder der Meditation und Weisheit zugerechnet werden. Es ist kaum verwunderlich, dass Dôgen Zenji, der mit zunehmendem Alter die Mönchsgemeinschaft als den Laien überlegen ansah, diesen Duktus aufgriff und sich so auch im Zen die Überzeugung halten konnte, es ginge um eine "dreifache Übung", wobei zuweilen daraufhin gewiesen wird, es handele sich um eine gleichzeitige und nicht um eine chronologisch aufeinander aufbauende (wie das erste Zitat vermuten ließ). 
   Ich werde in den kommenden Monaten durch Zitate früherer Chan-Meister aufzeigen, wo sie tatsächlich ihre Schwerpunkte setzten. Das Argument, dass die meisten von ihnen sogar nach dem Vinaya ordiniert gewesen seien und ein Einhalten eines strengen und umfassenden Regelkodexes offenbar vorausgesetzt werden konnte, lasse ich aus zwei Gründen nicht gelten. Zum einen wissen wir oft mit großer Zeitverzögerung und über Umwege von diesen Meistern, deren Biografien hagiographisch geglättet wurden. So etwas ist heute nicht mehr gut möglich, weshalb spätere Generationen sich über die Schattenseiten Ordinierter besser werden informieren können (Motto etwa: Das Internet vergisst nicht). Zum anderen würde man erwarten, dass diese Lehrer entsprechende Schwerpunkte in ihren Texten gesetzt hätten - diese fehlen jedoch häufig. Gerade bei den freigeistigsten Dharma-Nachfolgern kann man gar den Eindruck gewinnen, sie hätten zwar die Formalitäten eines Ordensdaseins absolviert, ohne dass es ihnen dabei jedoch in erster Linie darum gegangen wäre, zu erlernen, ein guter Mensch zu sein. Im Zentrum ihres Interesses stand vielmehr stets eine tiefere Einsicht ins Dasein.
   Heinrich Dumoulin sah in Seng-chao (ca. 374-414) einen Vorläufer des Chan. Dieser Gelehrte, der zunächst vom Taoismus beeinflusst war, wandte sich nach Lektüre des Vimalakirti-Sutras dem Buddhismus zu und wurde Mönch. Er wurde ein Schüler Kumarajivas und half diesem bei seinen umfangreichen Übersetzungen ins Chinesische. Am bekanntesten ist er jedoch für seine Traktate "Chao lun", in denen er den indischen Begriffen prajna, nirvana und shunyata sozusagen eine chinesische Konnotation beigab und die Madhyamaka-Philosophie darlegte. Walter Liebenthal hat das Werk ins Englische übersetzt. Bereits Seng-chao unterschrieb folgende Ansichten:
- dass es einen Unterschied zwischen letztgültiger Wahrheit (paramartha satya) und konventioneller Wahrheit (laukika satya) gibt;
- dass Weisheit nicht - wie im Theravada - durch Meditation erworben wird, sondern angeboren ist;
- dass Weisheit und Versenkung aber auch nicht getrennt voneinander sind, sondern beide durch Erwachen aktiviert werden;
- dass der Weise nichts selbst erkennt oder sich denkt, sondern sich "kosmische Erkenntnis" (chih) kosmisch manifestiert (chao);
- dass Dinge, die in Abhängigkeit (pratitya samutpada) entstehen, nicht "wahr" sind;
- dass durch spirituelle Übung "auf natürliche Weise" karmische Aktivität schwindet und Nirwana erlangt wird (pratisamkhyanirodha).
     Michael Berman kommt in seinem Aufsatz "Time and emptiness in the Chao-lun" zum Schluss, David "Humes Behauptung, dass es keine notwendige a priori-Verbindung zwischen Ereignissen und Objekten gäbe, stimmt mit Seng-chaos Folgerung einer 'Unmöglichkeit von Kausalität' überein" (wie sie ein Erwachter sähe).
   Seng-chaos Bemerkungen zu ethischem Verhalten weisen darauf hin, dass ihm bereits der Geist der Tugenden (paramita) wichtiger war als der von Geboten (sila) selbst. So schreibt er:
   "Die Herrschaft des vollendeten Wesens ist Antwort und nicht Aktion, Wohlverhalten und nicht Mildtätigkeit – so werden sein Handeln und seine Wohltätigkeit größer als andere. Dennoch wendet er sich weiter den kleinen Pflichten des Lebens zu, und sein Mitempfinden verbirgt sich in verborgenen Handlungen."
   "Indem er seinen Glanz an den Staub des Alltagslebens anpasst, wandert er über die fünf Ebenen der Existenz. Geräuschlos geht er dahin, unbemerkt kommt er an, nicht ins Leben verstrickt und doch überall präsent."
   "Weil ich mit der Illusion spendete, dass dies wirklich sei, handelte es sich nicht um dâna. Heute bot ich dem Buddha fünf Blumen im Bewusstsein dar, dass sie ungeboren sind (anutpanna); dies kann man zurecht dâna nennen."

Diese Feinheit, mit der aus dem Bewusstsein des "Ungeborenen" die - im Gegensatz zu den Formulierungen in den sila - weit unauffälligeren Handlungen des Erwachten geschehen, deuten bereits einen anderen Schwerpunkt an, als ihn die "dreifache Übung" unterjubeln will. Um zu verstehen, wieso sich dieses Konzept so hartnäckig hält, fasse ich nun den Beitrag von Rev. Kenshu Sugawara, Aichi Gakuin Universität, unter dem Titel "Zenkai Ichinyo: Die Einheit von Zen und Geboten", zusammen.

***

Der Ausdruck von der „Einheit Zens und der Gebote“ findet sich in Artikel 5 der Sotoshu-Satzung und bezeichnet dort einen Glaubenssatz. Dabei überlappen zwei Bedeutungen bezüglich a) der Gebote, wie sie von der Zen-Schule übermittelt wurden, und b) der Verbindung von Zazen (samadhi) und den Geboten. Laut Dogen Zenjis kechimyaku, dem Übertragungsdokument, das seine Linie belegt, soll sein Lehrer Tendo Nyojo gesagt haben, die Gebote Buddhas seien „die große Angelegenheit unserer Schule“ (Nachwort zum Jukakushinkaimyaku). Im Laufe der Zeit wurden darunter zunehmend die sechzehn Bodhisattva-Gelübde verstanden. Dogen lehnt in seinem Shobogenzo-Kapitel "Bendowa" die Ansicht ab, Zazen sei nur eine der sechs Tugenden (paramita), er hält Zazen für unvergleichbar und fragt im Shobogenzo Zuimonki (Kapitel 2): „Wenn wir in Zazen sitzen, welches Gebot würde da nicht befolgt?“ Im Zazen Yojinki schreibt er: „Zazen beschäftigt sich nicht mit Geboten, Versenkung und Weisheit, doch es enthält diese drei Lehren.“ Diese Ansicht wird später von Keizan Zenji gestützt. Zum einen sind die Gebote Teil von Zazen bzw. Nur-Sitzen (shikantaza), zum anderen auch der Dharma-Übertragung.
   Zu Beginn der Edo-Periode brachte Ingen Ryuki das Obaku-Zen nach Japan, das ebenfalls eine Zeremonie zum Empfang der Gebote enthielt. Dies inspirierte wiederum die Soto-Schule, deren Reformator Manzan Dohaku (1636-1715) die Schrift Zenkai Ketsu („Das Geheimnis von Zen und den Geboten“) und Taikyaku Kanwa („Stille Gespräche mit Besuchern“) mit Blick auf die Überlieferung der Gebote im Zen verfasste. In seiner Linie schrieb dann Banjin Dotan (1698-1775) über die zweite Bedeutung von Zazen und den Geboten in den Schriften Zenkai Hongi („Die Bedeutung von Zen und den Geboten“) und Busso Shoden Zenkaisho („Die Essenz der von den Buddha-Ahnen auf rechte Weise übermittelten Zen-Gebote“). Dort bezeichnet er die Überlieferung seit Buddha und Mahakashyapa alternativ z.B. als „die große Angelegenheit von Ursache und Wirkung“, „Shobogenzo“ und „Zen und die Gebote“. In dem Bodhidharma zugeschriebenen Text vom „Ein-Geist-Gebot“ heißt es, zum Buddha-Geist zu erwachen sei gleichbedeutend mit dem wahren Empfang der Gebote. Dieser Text wurde zunächst meist in Form von kirigami, esoterischen Lehren, von Meister an Schüler weitergegeben, tauchte in der Edo-Periode aber immer häufiger in Büchern auf, in denen das Erwachen zum Buddha-Geist mit Sitzen in Zazen gleichgesetzt wurde, er diente dabei also der Verfestigung der Idee, die Gebote seien im Zazen enthalten.
   Zu Beginn der Meiji-Zeit wurde die Zeremonie des Gebote-Empfangens von der Sotoshu genutzt, um ihre Lehre im gemeinen Volk zu verbreiten. Ihre erste Satzung gab sich die Schule im Jahr 1885. Seiran Ouchi (1845-1918) war maßgeblich an der Entstehung der Schrift über „Die Bedeutung von Praxis und Verwirklichung“ beteiligt – die noch heute in Form des Shushogi existiert –, wo er Bezug auf das Brahmanetz-Sutra und einen Satz nahm, wie er in der Soto-Zeremonie rezitiert wird: „Wenn fühlende Wesen die Buddha-Gebote empfangen, gelangen sie in den Rang von Buddhas“. Als der Abt des Eiheiji, Takitani Takushu Zenji, Seirans Schrift, die einem Sutra gleichkam, kommentierte, fiel auf, dass Zazen darin nicht vorkam. Einige Jahre nach Takitanis Tod stellte man darum die Frage, ob nun Zazen oder das Empfangen der Gebote wichtiger sei. Führende Priester der Sotoshu beriefen sich daraufhin auf die Doktrin der Edo-Periode, nach der Zazen und die Gebote eins seien. Bei einer Revision der Satzung im Jahre 1941 wurden dann neben diesem Passus weitere vier Prinzipien festgeschrieben: „Bereuen und schlechtes Karma tilgen“, „die Gebote empfangen und in die Ränge (der Buddhas) aufsteigen“, „geloben, allen Wesen zu nutzen“ und „den Buddhismus praktizieren und Wohltaten vergelten“.


 

Kommentare

  1. Hi. Ich verfolge seit Kurzen deinen Blog und habe mir auch schon einiges durchgelesen. Diesen Beitrag möchte ich jedoch mal kommentieren. Es stellen einige oft die Frage "warum Zen so streng sein muss". Die Strenge stammt aus Zeiten wo die meisten Mönche nicht freiwillig Mönche wurden, sondern aufgrund ihres Standes in der Gesellschaft. Der jüngste Sohn wurde meistens Mönch. Diese Männer hielten sich nicht an freiwillige Regeln. Die allerersten Zenschüler waren freiwillig zu ihrem Weg des Zen gelangt. Sie sind von Meister zu Meister gewandert. Ab ca. 800 A. D. änderte sich das und die Mönche wurden "sesshaft". Riten und Regeln wurden benötigt um das klösterliche Leben möglich zu machen und um die unfreiwilligen Mönche zu bändigen.

    Ich bezeichne dies als Masochismus. Das hat nichts mit Selbstliebe zu tun was viele Menschen sich unter dem Deckmantel ZEN antun. Es gibt aber glücklicherweise liebevollere Wege Zen zu praktizieren.

    Gewisse Rituale sind dahingehend gut, da sie Anfang und Ende anzeigen und eine gewisse Gemeinschaft beim Sesshin und und im Alltag bilden. Denn Zen ist Alltag. Zen hält mich zumindest auf dem Boden der Tatsachen. Ich komme nicht so leicht ins Schweben. :)

    Gruß
    Toby

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